Der 2. Juni 1967 war der Tag, an dem ich endgültig politisert und radikalisiert wurde. Denn an diesem Tag wurde der 26jährige Student Benno Ohnesorg während einer Demonstration gegen einen vom Westen hofierten orientalischen Potentaten von dem deutschen Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras kaltblütig ermordet. Der Beamte wurde für diesen Mord nie bestraft.
Oder, wie es ein Freund formulierte: »Am 2. Juni 1967 hat der Staat auf uns geschossen. Einer wurde getötet.«
Kurz darauf beschrieb Franz Josef Degenhardt genau die Gefühle von Ohnmacht und Wut, die ich damals auch hatte:
Da habt ihr es, das Argument der Straße.
Sagt bloß jetzt nicht: Das haben wir nicht gewollt.
Zu oft verhöhnt habt ihr die sogenannte Masse,
die euch trotz allem heut noch Beifall zollt.
Nun wißt ihr es: Uns ist es nicht genug,
in jedem vierten Jahr ein Kreuz zu malen.
Wir rechnen nach und nennen es Betrug,
wenn es gar keine Wahl gibt bei den Wahlen.
Jetzt schreiben wir die Kreuze an die Wände
mit roter Farbe. Warum eure Wut?
Das ist doch Farbe. Aber eure Hände.
Sind seit Berliner Tagen voller Blut.
Zerquetschte Schädel stellt ihr zum Vergleich
geplatzten Eiern und Tomaten.
Das ist nicht neu in diesem Land! Und euch,
euch paar’n, die ihr mal anders wart, was soll man euch noch raten?
Genau das ist die Mischung, die wir kennen:
Gerührt bei kindischer Sorayerei.
Und das schlägt zu, mitten im Flennen.
Aus Rotz und Blut ist dieser Brei.
Das Wetter stimmt, und Kurras schießt und lacht.
Wer soll ihn schon bestrafen?
Jetzt denkt an Deutschland in der Nacht,
und sagt, wer kann noch ruhig schlafen?
Degenhardt wurde so mein Vorbild und Held. Und es gibt schlechtere Vorbilder für einen 14- bis 15jährigen Jungen. Und aus mir wurde nach den Ereignissen des 2. Juni 1967 aus einem jungen katholischen Pfadfinder ein radikaler, atheistischer Sozialist. Doch was hat es gebracht? Nach einem kurzen Frühling der Freiheit und einem noch kürzeren Sommer der Anarchie gab es in Deutschland sehr schnell ein erzkonservatives Rollback: Aus der alternativen Liste wurde eine von Kirchentagstanten dominierte, grüngetünchte FDP mit Zwangsbeglückungvorstellungen, die SPD verlor spätestens mit dem Weggang von Oskar Lafontaine ihr Ziel des demokratischen Sozialismus’ aus den Augen und wurde zum Wegbereiter eines neoliberalen Reparaturbetrieb des Kapitals. Der lange Marsch durch die Institutionen, den auch ich angetreten war, hat die Linke aufgesogen, weichgespült und paralisiert bis von unseren Vorstellungen nichts mehr übrigblieb. Der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten hat einen entfesselten Turbokapitalismus ausgelöst. Die immer stärker werdende Rückkehr der Prüderie der 50er Jahre (gegen die ich mit obenstehendem Bild protestiere) ist ebenfalls ein Ausdruck dieses konservativen Rollbacks.
Und auch ich bin 50 Jahre älter und mich überkommt ob dieser Entwicklung der berechtigte Zorn des alten Mannes. Aber ich will nicht aufgeben und so beende ich diesen Beitrag mit ein paar Versen von Hanns Dieter Hüsch, einem weiteren Helden meiner Jungend:
Und man möchte mit den Gammlern gehen
und den freien Himmel täglich sehen,
und wir lägen am Boden und wären nicht wer.
Und hätten kein Geld und kein Vaterland mehr.
In Kellern säßen wir dann und auf Bäumen
und wären beschäftigt mit anderen Träumen,
und wir sehen manchen Kontinent.
Und wir kennen manchen, den man hier nicht kennt,
und wir hören kein dummes und falsches Geschwätz mehr.
Und fürchten kein Notstands- und Nazigesetz mehr.
Doch, das geht nicht, das geht nicht,
denn es gibt noch ein paar Freunde, die uns brauchen;
und es gibt noch ein paar Menschen, die gescheit sind;
und es gibt noch ein paar Kinder, die noch längst nicht so weit sind;
und es gibt noch ein paar Tote, die uns beim Wort genommen.
Freunde, wir haben Arbeit bekommen.
Über …
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