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Amazon und der Buchhandel: Wer will schon Beratung?

Mario Sixtus stellte die Frage: »Was, wenn viele Leute bei Amazon kaufen, weil sie das Konzept »kleiner Buchladen mit persönlicher Beratung« eher abschreckend finden?« Da hat er nicht so ganz Unrecht. Ich habe mir überlegt, wo ich eigentlich früher, in den Zeiten vor Amazon, meiner Bücher gekauft hatte: Das war einmal Kiepert an der Hardenberg-/Ecke Knesebeckstraße in Charlottenburg. Über drei Etagen und mehrere Häuser – unter anderem das legendäre Haus Hardenberg, wurden hier auf über 5.400 Quadratmetern Bücher angeboten, enggestellte Regale an engestellte Regale. Hier konnte man unbehelligt stöbern, ohne daß man von einem Buchhändler mit der Frage »Kann ich Ihnen helfen?« belästigt wurde. Die Buchhandlung Kiepert galt als der Erfinder des Selbstbedienungskonzepts im Buchhandel.


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Blackwell’s Books in Oxford, ebenfalls ein riesiger Buchladen mit Selbstbedienungskonzept, etwa 250.000 vorrätigen Büchern (und angeschlossenem Pub) [Photo (cc): Jörg Kantel]


Und was man bei Kiepert nicht fand, fand man bei Lehmanns am Steinplatz. Nicht ganz so groß, aber dafür war der Laden spezialisiert auf Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Medizin. Hier fand man die Fachbücher, die es sonst nirgendwo gab und auch hier durfte man nach Herzenslust stöbern ohne von einem eifrigen Verkäufer behelligt zu werden.

Denn wer schon einmal Menschen in einer Bibliothek beobachtet hat, wird feststellen, daß es zwei Arten von Nutzern gibt. Einmal diejenigen, die schnurstracks auf den Katalog (also heute auf das Computerterminal, früher waren es noch Karteikästen) zusteuern, genau wissend was sie suchen, sich Nummern notieren, um dann zielstrebig das richtige Regal anzusteuern und das herauszunehmen, was Ihnen der Katalog vorgeschlagen hat.

Doch dann sind da die anderen, die Flaneure, die die Regale entlangschlendern, die sich von den dort ausliegenden Titeln inspirieren lassen und unter Umständen die Bibliothek mit etwas ganz anderem verlassen, als sie sich ursprünglich vorgenommen hatten.

Aufs Internet übertragen nenne ich diese beiden Typen die Searcher und die Browser. Und ich gestehe, ich gehöre zu den Browsern. Eine Online-Sammlung, die hinter einer Datenbankmaske versteckt ist, ist für mich unbenutzbar. Ich weiß oft noch gar nicht, was ich suche, ich will durch die Sammlung blättern, stöbern und mich zu neuen oder anderen Dingen anregen lassen.

Und genau so kaufe ich Bücher. Kiepert und Lehmanns waren wie Amazon: Eine riesige Wunderkammer voller Bücher, die man alleine und ohne Anleitung erkunden konnte; nur zusammengehalten durch gewisse Kategorien, nach denen die Regale sortiert waren. Ich betrat oft die Räume, um nach einem Buch zu einem bestimmten Thema zu suchen und verließ den Laden mit einer Wundertüte voller Bücher zu völlig unterschiedlichen Themen.

Das macht für mich auch einen Teil der Faszination von Amazon aus: Die Vorschläge (Kunden, die dieses Buch gekauft hatten, kauften auch …) und Empfehlungen, die der »Algorithmus« mir macht, regen mich zu weiterem Stöbern an. Und genauso wie das Kiepertsche Selbstbedienungskonzept entwickelt wurde, um den Kunden zu mehr Ausgaben zu animieren, genau so ist es natürlich auch bei Amazon. Aber es stört mich in beiden Fällen nicht …

Für den Searcher mag dagegen die sprichwörtliche kleine Buchhandlung um die Ecke mit ihrem plappernden Buchhändler, der sein Sortiment auswendig kennt und dazu noch alle aktuellen Verlagskataloge herbeten kann, der richtige Aufenthalt sein. Wenn man denn noch einen findet und nicht die Hugendubels und Thalias den Markt beherrschen. Denn die haben zwar das Kiepertsche Selbstbedienungskonzept übernommen, aber nicht die schier grenzenlose Auswahl. Bei ihnen findet man nur das, was als gut verkäuflich gilt: Leicht zu konsumierende Massenware. (Es gibt Ausnahmen: Vor ein paar Jahren war ich bei Thalia in Jena, der Laden sieht/sah sich als Universitätsbuchhandlung mit einem sehr großen Sortiment in den Fächern, die in Jena gelehrt werden.)

Da bietet Amazon eben einfach mehr. Zwar nicht alles, aber es kommt der Idee von »alles« schon ziemlich nahe.

2002 ging Kiepert in die Insolvenz. Schuld daran waren nicht – wie vielfach kolportiert wird – das Internet und Amazon, sondern Kiepert hatte sich einfach mit den neuen Läden im Osten der Stadt, in der neuen City, übernommen. Dort waren die Mieten zu teuer und das Sortiment zu gering, der Unterschied zu Hugendubel und Thalia nur noch marginal.

Als kleine Ironie der Geschichte zog dann Lehmanns ins Haus Hardenberg. Auf einer kleineren Fläche von »nur« 1.600 Quadratmeter gaben sie ihre Identität als Fachbuchhandlung auf und versuchten sich als Sortimenter. Das ging schief und so schloß Lehmanns vor ziemlich genau einem Jahr, am 15. August 2013, den Laden. Das war schade, denn sie waren in Mathematik und Informatik immer noch gut sortiert und gelegentlich fand ich dort noch Bücher, die ich – ohne den Titel zu kennen – so bei Amazon doch nicht erstöbert hätte. Doch seitdem gibt es für mich in Berlin keine Alternative mehr zu dem Internetriesen.


2 (Email-) Kommentare


Das entspricht ziemlich genau meiner Erfahrung. In Hamburg war es seit Mitte der 80er Thalia, die das riesige "Browser"-Konzept etablierten. Da gingen selbst die mit meinen Eltern befreundeten Buchhändler nicht ohne Buch raus. Bis Amazon kam, war das meine Welt.
Seit 1998 habe ich fast keine Bücher mehr woanders gekauft als bei Amazon. Seit 2005 habe ich außer Lebensmittel und Kleidung fast gar nichts mehr woanders gekauft als bei Amazon. Ich habe Amazon geliebt und Zehntausende Euro dort gelassen.
Jetzt habe ich mir Amazon-Abstinenz verordnet. Nicht wegen der Mitarbeiter, die nicht in den Versandhandelstarif dürfen. Auch nicht aus Mitleid für unsere Verlage, die sich viel zu lange nicht um neue Geschäftfelder bemüht und statt dessen auf dem Status Quo ausgeruht haben. Sondern weil Amazon das macht, weswegen ich auch Apple boykottiere: Z-E-N-S-U-R!
Egal, aus welchen Gründen Zensur betrieben wird (bei Amazon z.Zt., weil sie die Lieferanten unter Druck setzen wollen), für Zensur gilt immer: Wehret den Anfängen!
Amazon manipuliert jetzt sein bestes Feature: "Kunden, die Schwarte A gekauft haben, interessieren sich auch für Schwarte B". Das machte Amazon um so vieles besser als den in meinen Augen schon immer überschätzten "kleinen Buchhändler ums Eck". Vorbei…

– Till B. (Kommentieren) (#)


Buchhandlungen für "Browser" sind leider fast völlig verschwunden. Die großen Ketten zeigen mit ihren Auslagen ein Angebot, bei dem man nicht fürchten muss, dass von ihm nennenswerte Impulse zur Weiter-Bildung ausgehen. Endlich! Jahrhundertelanges Wüten der Inquisition hatte das nicht vermocht.
Die kleinen Buchhändler, die wir alle lieben sollen, kennen vielleicht ihren Bestand, beim dem mit dem Browsen aber recht schnell Schluss ist. Kleine und große Buchhändler, die ihr oder vielleicht sogar das Angebot richtig kennen und über dieses auch noch ein Gespräch führen können, werden jedoch immer seltener. Die größten Chancen solche Menschen zu treffen hat man derzeit noch in Antiquariaten.
Es ist doch schön, dass es Erinnerungen - wie das stundenlange Stöbern in richtigen Büchern - gibt, die nicht digital reproduziert werden können. Das ist der Beweis, dass früher alles viel besser, wirklich besser war.

– Michael J. (Kommentieren) (#)


(Kommentieren)  Amazon und der Buchhandel: Wer will schon Beratung? bitte flattrn




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Der Schockwellenreiter ist seit dem 24. April 2000 das Weblog digitale Kritzelheft von Jörg Kantel (Neuköllner, EDV-Leiter, Autor, Netzaktivist und Hundesportler — Reihenfolge rein zufällig). Hier steht, was mir gefällt. Wem es nicht gefällt, der braucht ja nicht mitzulesen. Wer aber mitliest, ist herzlich willkommen und eingeladen, mitzudiskutieren!

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