(Ein musikhistorischer Essay in YouTube-Videos und Wikipedia-Links.)
Ein Leser des Schockwellenreiters schickte mir unter dem Betreff »Deutsche Sangeskunst« einen Link zu diesem Video: »Wir«, 1966 gesungen von Freddy Quinn. Ein wenig irrte mein Leser. Der »singende Hamburger Seemann« war östereichisch-irischer Abstammung und verbrachte die längste Zeit seiner Jugend in Wien, lernte aber, entgegen anderslautenden, bösartigen Gerüchten, sein maritimes Handwerk nicht bei der legendären Gebirgsmarine des Alpenstaats. Doch andererseits: Freddy Quinn war mit 10 Nummer-1-Hits und 23 Platzierungen in den deutschen Top-Ten der erfolgreichste Sänger der jungen Bundesrepublik. Und vermutlich hat sich mein Tipgeber auch in meinem Alter geirrt: Ich bin mit Freddy Quinn in den Ohren in eben diesem Nachkriegsdeutschland aufgewachsen.
Doch warum dieses seltsame Lied von einem, der bisher mit seichten Heim- und Fernwehballaden Millionen verdiente? 1966 war das Jahr, in dem die Rolling Stones und die Beatles die Charts stürmten und der Beat-Club den betulichen Schlagersendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefährlich wurde. Ich glaube, Freddy Quinn spürte, daß dies auch seine Karriere betraf. Ein Jahr zuvor hatten die Plattenproduzenten einen blonden Sänger aufgetan, der mit seiner Interpretation des »Volksliedes« Jenseits des Tales standen ihre Zelte (ein Lied der bündischen Jungend von 1920) erfolgreich als Folk- und Protestsänger vermarktet wurde. Er hieß Heinz-Georg Kramm und trat unter dem Künstlernamen Heino auf. (Ironie der Geschichte: Die eigentliche, erfolglosere A-Seite der Single war ein Freddy-Quinn-Cover.)
Okay, auch »Wir« war eine B-Seite, auf der A-Seite wurde mit Eine Handvoll Reis traurig der Vietnamkrieg besungen. Damit war die Stoßrichtung festgelegt. Freddy Quinn sollte als Protestsänger aufgebaut werden, aber als massenkompatibler Protestsänger, der – wie später Nicole mit Ein bißchen Frieden – es allen Recht machen und niemandem wehtun sollte. Das ging jedoch gründlich in die Hose. Zwar bediente er mit seinem trotzigen »Wir« den Boulevard und wurde zum Liebling der Springer-Presse, deren Zentralorgan BLÖD zeitgleich gegen Gammler, Studenten und andere langhaarige Affen hetzte und den »Volkszorn« aufstachelte. Doch Freddy Quinn lief das junge Publikum, das ihm bisher wegen seines rebellischen Images die Stange gehalten hatte, davon. Er wurde zum Anti-Rebellen, zum Liebling der Omas und Mütter.
So legte das Management nach. Noch im gleichen Jahr erschien 100 Mann und ein Befehl, eine Coverversion des patriotischen Durchhaltesongs The Ballad of the Green Berets, mit der in den USA ein SSGT Barry Sadler den Vietnamkrieg verherrlichte – und sieht der schmucke Staff Sergeant nicht aus wie eine jugendliche Inkarnation von Mit Romney? Zwar war der deutsche Text nicht kriegsverherrlichend und militaristisch wie das Original, doch nach »Wir« glaubte niemand mehr an Quinns Antimilitarismus. Heidi Brühl galt als die glaubwürdigere Interpretin des Schlagers. Gleichwohl war die Single erfolgreich und dudelte auf allen Radiostationen, auch ich kann heute noch den Text auswendig herbeten. Aber es war der letzte, große Erfolg von Freddy Quinn. Danach war er nur noch B-Star, während Heino erfolgreich seinen Imagewechsel vom Folk-Sänger ins Musikantenstadel vollzog.
Aber sonst änderte sich wenig in der deutschen Schlagerlandschaft. Zwar ließ Dieter Thomas Heck in der ZDF-Hitparade seit 1969 auch langhaarige Sängerinnen und Sänger in Lammfelljacken und mit bunten Holzketten auftreten – aber nur, wenn sie adrett aussahen, wenn sie frisch gewaschen – eben »von uns«, eben »wir« – waren. Doch im gleichen Jahr in dem die ZDF-Hitparade auf Sendung ging, besang in den USA auf dem Woodstock-Festival ein ungewaschener und dreckig wirkender Sänger, der sich Country Joe McDonald nannte, mit dem I-Feel-Like-I’m-Fixin’-to-Die Rag (geschrieben 1965, ein Jahr vor »Wir«) das Ende des Vietnamkriegs herbei und zementierte damit auch für Jahrzehnte die Trennung zwischen Rock und Schlager, zwischen jungem, rebellischen und altem, bürgerlichen Publikum.
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