Time for Change – Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre ist ein schmales (knapp 180 Seiten starkes) Büchlein des Wirtschaftswissenschaftlers und kurzzeitigen linken griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis. 2013 geschrieben liegt es nun endlich auch in einer deutschen Übersetzung vor. Und das ist gut so. Denn ich habe bisher noch nie eine so vergnügsame und kurzweilige Einleitung in die Politische Ökonomie des Kapitalismus gelesen. Beginnend mit der Frage, warum die australischen Aborigines nie in England eingefallen sind, erklärt das Buch die Entstehung der Marktgesellschaften ganz klassisch am englischen Beispiel, geht mit Marlowes Die tragische Historie vom Doktor Faustus der Frage von Schulden, Gewinn und Reichtum nach (und erklärt gleichzeitig, warum Marlowes Faust in die Hölle kommen muß, während Goethes Faust gerettet werden kann) und geht dann in Kredit, Krise und Staat auf die Rolle der Banken ein. Mit Dr. Viktor Frankenstein und der Matrix erklärt erklärt er uns nicht nur den Unterschied zwischen Gebrauchs- und Tauschwert der Waren, sondern auch das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate.
Mit einem Abstecher zu Ridley Scotts Film Blade Runner geht er auf den Unterschied zwischen Maschinen und Menschen ein und zeigt, warum nur Menschen Mehrwert produzieren können, um uns dann mit Ödipus zu erklären, warum zwei Waren dämonisch anders sind als die anderen: Arbeit und Geld. Am Beispiel eines Kriegsgefangenenlagers im Zweiten Weltkrieg erzählt er, wie ein universelles Zahlungsmittel (Zigaretten) entsteht um dann auf den Unterschied zwischen diesen Zigaretten und politischem Geld einzugehen (und erklärt warum Bitcoin als Versuch apolitisches Geld zu schaffen, scheitern muß).
Varoufakis schafft es, den ganzen marxistischen Kanon leichtverständlich zu erklären und dabei nur ein einziges Mal Karl Marx direkt zu erwähnen. Dabei führt er neben den bekannten Begriffen Gebrauchs- und Tauschwert noch einen dritten ein, den Lebenswert. Einem an Marx geschulten Leser mag das erst einmal irritieren, aber bald merkt er, daß dieser Begriff Programm und Perspektive ist: Er erlaubt es nämlich, eine postkapitalistische Gesellschaft zu denken, ohne Rückgriffe auf die Vergangenheit machen zu müssen. Yanis Varoufakis ist aber weit davon entfernt, Prophet sein zu wollen. Er überläßt diese Vision dem Leser, macht aber darauf aufmerksam, daß wir zwei mögliche Zukünfte haben: Die der Matrix und die von Star Trek, in der »Menschen das Weltall erforschen und sich in philosophischen Gesprächen ergehen, während das Essen automatisch aus einer Öffnung in der Wand kommt, zusammen mit all den anderen Dingen, die man so braucht (von Kleidern und Werkzeugen bis zu Musikinstrumenten und Schmuck)«.
Das Buch schließt mit einem weiteren Beispiel aus der Matrix: Zu Beginn des Filmes stellt der Revolutionär Morpheus dem noch ahnungslosen Neo vor die Wahl, entweder eine rote oder eine blaue Pille zu schlucken. Schluckt er die blaue Pille, bleibt er weiter als Sklave der Maschinen in seiner Scheinwelt gefangen. Diese blauen Pillen sind für Varoufakis die neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler, deren Werk schon lange keine Wissenschaft mehr sei – es sogar nie gewesen ist – sondern Ideologie und Religion. Sie weben »eine Matrix, die einem verbietet, die Wahrheit der Gesellschaft zu sehen, die einem bestimmt«.
Time for Change will dagegen die rote Pille sein. Das Buch will Varoufakis Tochter (und den Leser) an das kritische Denken heranführen und die Bereitschaft wecken, »nie etwas zu akzeptieren, […] weil die Starken, die Mehrheit, die »anderen« daran glauben«. Es soll helfen, die Lügen der Starken zu durchschauen und in ihrer ganzen Häßlichkeit und Sinnlosigkeit zu begreifen.
Und deswegen halte ich das Buch für wichtig. Wer es noch nicht gelesen hat, der kaufe (und lese!) es. Wer es dagegen schon gelesen hat, der kaufe ein weiteres Exemplar, um es zu verschenken. Denn um einen Wandel herbeizuführen, brauchen wir viel mehr rote Pillen wie Time for Change.
2 (Email-) Kommentare
Danke - weiter so, Kollege. Sehr gut.
P.S. In diesem Zusammenhang fällt mir Piketty "Das Kapital im 21 Jahrhundert" ein (als Hörbuch ausgezeichnet zu verarbeiten) und dabei wiederum ein Interview mit Cornelia Koppetsch aus dem SZ-Magazin 32/15 https://oc.bgc.mpg.de/public.php?service=files&t=64c4bf1c46dfb035ad633e6ff34b539b
– Bertram S. (Kommentieren) (#)
Jetzt ist das Interview mit C. Koppetsch auch online verfügbar: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/43404/Freiheit-ist-kapitalistischer-Mainstream
– Bertram S. (Kommentieren) (#)
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