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Zwei Lesebefehle: »Stammheim« und »Die öffentliche Meinung«

Gerade jetzt in den Tagen, in denen mich das prüde Gesichtsbuch wegen der Veröffentlichung eines harmlosen, 110 Jahre alten und künstlerisch wertvollen Aktbildes für 30 Tage gesperrt hat, bin ich doch froh, daß meine Filterblase nicht das Fratzenbuch, sondern mein RSS-Feed ist. Und so bin ich darüber auf Leseempfehlungen von Burks (wir müssen unbedingt mal wieder ein Bier zusammen trinken) und Broeckers gestolpert, die ich Euch unbedingt ans Herz legen möchte.

Burks empfiehlt Stammheim - Der Prozess gegen die Rote Armee Fraktion; Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung des leider viel zu früh verstorbenen niederländischen Rechtsanwalts und RAF-Verteidigers Pieter Bakker Schut. Mit seinem Namen ist die Theorie der Ermordung der Häftlinge durch den deutschen Staat verbunden: »de lange arm van het Bundeskriminalamt«. Das Buch wurde von den deutschen Qualitätsmedien erst totgeschwiegen und dann von der deutschen Justiz verboten:

Am 18. August 1987 wurde auf Antrag des Generalbundesanwalts bestimmt, das Buch und die zur Herstellung des Druckwerkes gebrauchten oder bestimmten Vorrichtungen zu beschlagnahmen. Der Generalbundesanwalt hatte ein Ermittlungsverfahren gegen Peter H. Bakker Schut und den Neuen Malik Verlag nach § 129a, Abs. 3 StGB eingeleitet. Im September folgte die größte Durchsuchungsaktion, die der westdeutsche Buchhandel nach dem Kriege erlebt hatte. Setzerei und Druckerei wurden durchsucht und mit Hilfe der in der Verlagsauslieferung aufgefundenen Rechnungsunterlagen wurden in über 300 Buchhandlungen ca. 3.000 Exemplare des Titels beschlagnahmt.

Das Buch ist die notwendige Korrektur der öffentlichen Meinung und so komme ich zur zweiten Empfehlung: Walter Lippmann war zwar glühender Antikommunist, aber ein ebenso treffsicherer wie analytischer Medienkritiker (von ihm stammt unter anderem der Begriff Gatekeeper). Sein 1922 geschriebenes Buch »Die öffentliche Meinung – Wie sie entsteht und manipuliert wird« war jahrzehntelang das Standardwerk für angehende Journalisten, in dem sie viel über die Methoden der Steuerung öffentlicher Meinung lernten. Diesen lange verschollenen Klassiker kann man nun endlich wieder neu lesen. Er erscheint am 1. August neu aufgelegt im Westend-Verlag. Broeckers zitiert aus der Einleitung:

Lippmann beschreibt in Die öffentliche Meinung, wie Menschen durch imaginative Bilder beeinflußt und gesteuert werden können. Die Aktualität dieser Fragestellung liegt auf der Hand: Wir leben in einer Welt, in der andauernd versucht wird, die Vorstellungswelten breiter Schichten der Bevölkerung zu beeinflussen. Werbung, politischer Spin und Inszenierungen sind selbstverständlicher Bestandteil von Wirtschaft und Politik geworden. Der Rechtspopulismus hat dem eine neue Note verliehen. Auffallend ist, wie wenig über die mediale Beeinflussung von imaginativen Vorstellungen reflektiert wird. […] Die öffentliche Meinung betrachten wir deswegen nicht als Werk der Propaganda, der Manipulation oder der Beeinflussung, gleichwohl es sich über weite Strecken als ein Handbuch für diese Praktiken lesen lassen mag. Lippmann, so scheint es uns, möchte mit Die öffentliche Meinung aufklären, zum Denken anregen und Debatten anstoßen – alles individuelle wie soziale Praktiken, die er bereits Anfang des letzten Jahrhunderts auf dem Rückzug in unseren westlichen Gesellschaften sieht.

Ich weiß nicht, ob Lippmann heute noch in den Journalistenschulen gelehrt wird (ich fürchte eher nein), daher möchte ich zum Schluß noch auf einen weitere frühe Kritik der öffentlichen Meinung hinweisen, die auch heute noch musikalisch sehr viel Spaß bringt: In Jacques Offenbachs Operette Orpheus in der Unterwelt tritt die Öffentliche Meinung personifiziert als das auf, was sie ist: Eine zänkische und rechthaberische Alte.


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Über …

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