Lorenz Matzat, selber einer der erfolgreichsten und aktivsten im Bereich Datenjournalismus, ist enttäuscht, wie wenig in den letzten Jahren passiert ist. Seine Hoffnung
daß Datenjournalismus mit seinen neuen Perspektiven mehr Gehalt, neue Themen und mehr Tiefe in die Berichterstattung bringt, ist nur punktuell erfüllt worden. Es scheint: Je mehr sich zahlreiche Medienhäuser gegenseitig krampfhaft versichern, Qualitätsjournalismus zu betreiben, um so weniger Qualität wird wirklich geliefert.
Es reiche nicht, schnell ein paar Visualisierungen auf Karten oder ein paar interatkive Diagramme hinzurotzen, aber selbst das vermißt er:
Wo war etwa das Datenstück zu Griechenland? Seit sechs Monaten ist das Dauerthema. Aber hat im deutschsprachigen Raum sich wirklich jemand den europäischen Finanzdaten, dem ganzen Schuldenuniversum der EU gewidmet und das verständlich – gestützt durch Visualisierungen – runtergebrochen? Daß dies nicht geschehen ist, ist fahrlässig und für das Genre Datenjournalismus eigentlich beschämend.
Aber die eigentliche Leerstelle macht er woander aus:
Das Internet mit seinen massiven Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche der Gesellschaft ist grundlegend datengetrieben. Es ist frappierend, daß diese umwälzende Technologie nicht viel mehr Thema im Journalismus ist.
Statt dessen gibt es ein wenig Social-Media-Budenzauber. Eine Entwicklung, die auch mich abstößt. Da werden Klickstrecken generiert, die aus nichts anderem bestehen, als aus relativ wahl- und lieblos zusammengestellten Twitter-Nachrichten, da werden völlig belanglose Streitereien auf Facebook zu gefährlichen Shitstorms hochgeschrieben. Und so fordert Lorenz Matzat zu Recht: Aus Datenjournalismus sollte Journalismus über Daten werden. Denn hier sei die Stelle, an der Datenjournalismus brillieren könnte:
Wo werden von wem Daten gesammelt; wem gehören sie; wie geschieht das; was wird mit den Daten gemacht; wo begegne ich ihnen in verarbeiteter Form wieder; welche Interessen stecken dahinter; wie beeinflußt das mein Leben; wie kann ich hier halbwegs Kontrolle bewahren?
Data Driven Design hat zwar nur indirekt mit dem heutigen Thema zu tun, aber der Bericht Data-Informed Product Design, den Ihr Euch – leider wieder erst nach einer Registrierung – kostenlos herunterladen könnt, ist eventuell in diesem Zusammenhang auch interessant. Der Artikel Designing with all of the data ist ein Exzerpt aus diesem Bericht.
Jeff Jarvis spricht in seinem Blog über den aktuellen Zustand des Hyperlokalen. Angeregt durch eine neue Umfrage erinnert er daran, daß dies ein hartes Geschäft sei. Gerade einmal ein Drittel der lokalen Newsseiten in den USA bringen es im Jahr auf 100.000 US-$ oder mehr, alle anderen nehmen weniger ein, davon sei vielleicht die Hälfte profitabel. Dabei könnten lokale Newsseiten die Grundlage für ein neues journalistischen Ökosystem in Communities legen.
Ich denke, daß Jarvis Recht hat und man diese Idee weiterdenken muß. So etwas wie die Online City Wuppertal, in der lokale Händler über ein (kommerzielles) Online-Portal (finanziell unterstützt durch die Stadt) versuchen, den großen Internet-Riesen wie Amazon Paroli zu bieten, wäre sicher erfolgreicher, wenn nicht nur lokale kommerzielle, sondern auch andere lokale Initiativen eingebunden würden, es dann tatsächlich so etwas wie »unser« Wuppertal wäre.
Ausgehend von der Beobachtung, daß immer weniger Menchen ihr Handy zum telephonieren, sondern immer mehr als Nachrichtenlieferant nutzen, schließt Klaus Eck, daß Twitter und Facebook wichtiger als Newslieferanten werden. Die Gefahr, die er darin sieht, ist, daß der Konsument nicht mehr über seine Filterblase hinausblicken müßte. Ich frage mich jedoch, ob er oberhaupt über seine Filterblase hinausblicken kann, ob es ihm bewußt ist, daß er in einer Filterblase steckt. Und so kommen wir wieder zu der eingangs angesprochenen Forderung von Lorenz Matzat, daß wir mehr Journalismus über Daten (und wie sie uns erreichen respektive nicht erreichen) brauchen.
Hossein Derakhshan wurde 2014 nach sechs Jahren aus der Haft im Iran entlassen, wo er wegen seiner kritischen Berichterstattung – hauptäschlich in seinem Blog – einsaß. In dem Beitrag The Web We Have to Save beklagt er, daß das freie, denzentrale Web – repräsentiert durch unabhängige Blogs und deren Autoren –, das er vor seiner Verhaftung kannte und liebte, immer mehr durch zentrale, kommerzielle Medien abgelöst würde. Auch er sieht die Gefahr, daß dadurch Nachrichten in den Algorithmen hängenblieben und die Leser nicht mehr erreichten.
Und zum Schluß etwas ganz anderes: Christoph Küffer fordert in seinem Beitrag »Slow Science – Denkfreiräume statt Beschleunigung« eine entschleunigte Wissenschaft. Denn schon seit der Antike sei bekannt, daß Wissenschaft Muße und Freiräume benötigt. Davon sei die gegenwärtige Wissenschaft weit entfernt, da sie unter dem permanenten Druck stünde, rasch verwertbare Ergebnisse zu erzielen. Doch vermehrt
tauchen an Universitäten Rufe nach einer langsameren Wissenschaft auf. Vor einigen Jahren hat ein Slow Science Manifest zu einer Debatte in der Wissenschaftspresse geführt. Neuerdings vertritt die Science in Transition Bewegung in Holland ähnliche Anliegen.
Küffer erwähnt allerdings nicht, daß dieser Verwerungsdruck schon früher beginnt. Turbo-Abitur und der Bologna-Prozeß sind ebenfalls Ausdruck eines neoliberalen Drucks, statt im Sinne des humanistischen Ideals umfassend gebildete Menschen hervorzubringen, industriell verwertbare Arbeitssklaven zu erzeugen.
Über …
Der Schockwellenreiter ist seit dem 24. April 2000 das Weblog digitale Kritzelheft von Jörg Kantel (Neuköllner, EDV-Leiter, Autor, Netzaktivist und Hundesportler — Reihenfolge rein zufällig). Hier steht, was mir gefällt. Wem es nicht gefällt, der braucht ja nicht mitzulesen. Wer aber mitliest, ist herzlich willkommen und eingeladen, mitzudiskutieren!
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