Ich habe die Diskussionen zum 30C3 nur aus der Ferne und durch die Presse verfolgt. Aber es schien dort eine gewisse Rat- und Mutlosigkeit angesichts der Totalüberwachung des Netzes durch NSA, GCHQ und anderen Geheimdiensten vorzuherrschen. Die hilflosen Apelle zum Whistleblowing und zum Unterwandern der Geheimdienste zeigen aber auch auf, daß nicht (nur) das Internet in Gefahr, sondern eher das Selbstverständnis der Hackergemeinde erschüttert ist: Jahrzehntelang haben sie sich als digitale Elite verstanden, als die, die das Internet verstanden haben und als die, die wußten wie man sich via Terminal, kryptographischen Algorithmen und anderem obskuren Geheimwissen, das nur ihnen, der Tempelkaste der Hohepriester des Netzes, vorbehalten war, unangreifbar macht. Da stürzt natürlich das gesamte Weltbild ein, wenn man feststellt, daß die Gegenseite mindestens genau so gute Hacker hat, wie man glaubte, selber einer zu sein.
Daher rührt auch mein tiefes Mißtrauen gegen Appelle zur besseren Verschlüsselung und anderer technischer Aufrüstung, die einem vor dem Ausspähen schützen sollen. Das führt in meinen Augen nur zu einem Wettrüsten, wie wir es in atomarer Form schon einmal während der Zeit des Kalten Krieges hatten. Galten zum Beispiel vor wenigen Jahren noch 128-Bit-Schlüsselsysteme als sicher, müssen es heute schon mindestens 448 Bit sein. Und morgen … ?
Ich glaube daran, daß wir die Art und Weise, wie wir das Netz benutzen, verändern müssen. Und ich glaube daran, daß es möglich ist. Denn in den letzten Jahren haben wir uns (ich schließe mich da nicht aus) viel zu sehr von den Bequemlichkeiten, die uns die Datenkraken versprochen haben, einlullen lassen und unsere Autonomie über unsere Daten dabei verloren – genauer: gedankenlos aufgegeben. Daher muß ein erster und wichtiger Schritt sein, diese Autonomie zurückzugewinnen.
Im letzten Jahr hatte ich meine eigene Flucht aus den Datensilos angekündigt und zu gegenwärtigen Zeitpunkt auch weitestgehend realisiert. Zwar wird der Schockwellenreiter auch weiterhin (noch) bei Amazon S3 gehostet, aber das ist nur noch ein Spiegel dessen, was auf meiner lokalen Festplatte liegt. Mit einem Umschalten des rsync
auf einen anderen Hoster wäre das Problem erledigt. Lediglich flickr und YouTube machen mir noch Probleme: Zwar ist eine flickr-Alternative, die ebenfalls auf statischen Seiten beruht, in Arbeit, aber der Programmieraufwand ist doch recht hoch, so daß es sicher noch ein paar Monate dauern wird, bis ich damit fertig sein werde.
Und bei den Videos macht mir der Eiertanz um das »richtige« Format die größten Probleme. Wer will schon jedes Video vor dem Hochladen in (mindestens) drei verschieden Formate (MPEG4, WebM und Ogg Theora (evtl. auch noch einen Fallback nach Flash)) konvertieren, nur um sicherzustellen, daß das Filmchen auch von jedem Browser gelesen werden kann?
Alles andere damals angekündigte habe ich jedoch verwirklicht und so denke ich, daß es in diesem Jahr an der Zeit ist, die Überlegungen fortzusetzen und die Erfahrungen zu verallgemeinern.
Dreh- und Angelpunkt all meiner Überlegungen ist, daß die Verarbeitung aller Daten wieder lokal und unter Kontrolle des Nutzers erfolgen muß und nicht auf dem Webserver irgendeines Providers oder einer sonstigen Datenkrake stattfindet. Winers damals mit Radio UserLand realisierte Idee eines Webservers auf dem Desktop, der statische Seiten herausschreibt, halte ich heute noch für wegweisend. Nun ist Frontier resp. der OPML Editor, die Software, auf die Radio UserLand aufsetzte, in die Jahre gekommen und nur noch unter erschwerten Bedingungen nutzbar. Aber es gibt durchaus Alternativen, die man nutzen und ummodeln könnte. In CouchDB oder Couchbase sehe ich solche Alternativen. Beide Pakete sind nicht nur dokumentenorientierte Datenbanken, sondern gleichzeitig auch Applikationsserver und sind so durchaus mit Frontier vergleichbar (nur moderner). Und sie verfügen über einen Replikationsmechanismus, der es erlaubt, die Datenbasis über diverse Instanzen zu synchronisieren.
Wie ich hier schon schrieb, wäre das nicht nur die Basis für ein neues, modernes Frontier, das all das hat, was Frontier niemals haben wird (64-Bit-fest, plattformübergreifend, UTF-8- oder sogar UTF-16-fähig, eine solide Code-Basis und mit JavaScript eine moderne Programmiersprache), sondern eine CouchDB- (oder Couchbase-) Applikation könnte auch als Basis für ein echtes P2P Social Network dienen: Jeder betreibt seine eigene Anwendung und die CouchDB gleicht mit den Applikationen der Kooperationspartner ab (ich möchte den Facebook-(Miß-)Begriff) der »Freunde« hier ausdrücklich vermeiden) und schreibt diese in die jeweilige Datenbasis mit hinein, so daß seine Meldungen ebenfalls auf »meiner« Seite publiziert werden. Dabei ist natürlich darauf zu achten, daß die Meldungen der Partner natürlich nur dann übernommen werden, wenn diese ebenfalls meine direkten Partner sind.
Wenn dann Winer endlich seinen Outliner Fargo unter eine freie Lizenz stellen würde, könnte dieser als Frontend für diese Anwendung(en) dienen. Mit Markdown1 als (interne) Auszeichnungssprache. Denn Fargo schreibt – soweit ich weiß – JSON heraus und JSON ist auch das interne Speicherformat der CouchDB. Aber auch andere Frontends sind durchaus denkbar, so würde ich zum Beispiel gerne RubyFrontier mit CouchDB/Couchbase verheiraten und ich finde auch immer noch den Org-mode des Emacs oder (in meinem Falle) des Aquamacs als Basis für eine Publikationsplattform interessant. Ich hatte ihn ja schon einmal mit RubyFrontier gekoppelt, denn ich sehe den Outliner des Org-mode durchaus als Alternative zum Fargo-Outliner.
Das verteilte Versionskontrollsystem Git und die Hosting-Variante GitHub haben ebenfalls viel zur Demokratisierung des Netzes beigetragen und als Ideenlieferant für meine Überlegungen gedient2. Sie arbeiten ähnlich wie CouchDB, das heißt jede Instanz verfügt lokal über die kompletten Daten und bei Bedarf werden diese über einen Server synchronisiert (und Versionskonflikte behoben). Und eine Publikationsmöglichkeit über so etwas wie GitHub Pages ist vor allem dann interessant, wenn wir berücksichtigen, daß mobile Plattformen mehr und mehr den Desktop ablösen werden3.
Ein Vorteil eines verteilten P2P-Netzes ist auch, daß dieses über keinen fetten Serverpark verfügen muß. Mittlerweile sind reichlich Bestrebungen im Gange, Cloud-Server auf Basis eines Kleincomputerchens wie des Raspberry PI zu entwickeln. Am weitesten fortgeschritten scheint mir das Projekt arkOS, das die Bedienung eines solchen Cloud-Dienstes auch soweit vereinfachen will, daß auch Menschen ohne ein abgeschlossenes Informatikstudium die Software administrieren können.
Außerdem verbrät der Raspberry Pi nur etwa 3 Watt/h, ist also kein Stromfresser. Ein Dauerbetrieb ist also auch unter ökologischen Gesichtspunkten nicht wirklich schädlich. Und die gesamte Software ist frei und basiert auf offenen Standards und offenen Protokollen.
Ob man diese Mini-Cloudserver dann via DynDNS oder ähnlicher Dienste der Welt bekanntmachen muß oder ob IPv6 dafür neue Möglichkeiten bieten wird, bleibt abzuwarten.
Nun ist aber sicher nicht jeder dazu in der Lage oder will so ein Serverchen betreiben. Hier könnten sich daher Gruppen bilden, für die einer oder ein Team den Betrieb und die Wartung des Servers übernimmt, aber auch Interessierte in die Nutzung einführt. Die virtuelle Struktur des Netzes verlangt dabei nicht einmal, daß diese Gruppen in einem lokal begrenzten Raum operieren, sie können auch weltweit verteilt agieren. Allerdings fände ich die Idee eines regelmäßigen Serverstammtisches sehr charmant.
Wichtig ist nur, daß sich diese Gruppen untereinander vernetzen und so im Laufe der Zeit eine echte virtuelle, weltweite, aber dennoch dezentrale Community, ein echtes Social Network bilden.
Ich behaupte nicht, daß diese dezentralen Netze von den Geheimdiensten nicht überwacht werden können, aber es wird ihnen zumindest so schwer wie möglich gemacht.
Vieles an diesem Entwurf ist diskussionswürdig, einiges hängt auch von notwendigen Veränderungern ab. So wäre vieles einfacher zu realisieren, wenn die ISPs endlich echten symmetrischen Netzzugang als Standard anbieten würden und nicht den Download (den Konsum) mit hohen Geschwindigkeiten belohnen und den Upload (die Partizipation) mit einem Schneckentempo bestrafen würden.
Ich selber werde in der nächsten Zeit verstärkt damit experimentieren, ob und wie ich CochDB/Couchbase zu einer Frontier-Alternative aufblasen kann und darüber hier im Schockwellenreiter berichten. Wenn Ihr da draußen an ähnlichen Projekten arbeitet oder einfach nur mit mir darüber diskutieren wollt, wäre ich für Beiträge – ob als Kommentare oder als Gastbeiträge im Blog – sehr dankbar. Und ich möchte mit einem Satz aus Bertolt Brechts Radiotheorie schließen:
Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie darüber nachzudenken, warum es utopisch ist.
In diesem Sinne: Es gibt viel zu tun. Packen wir es an …
1 (Email-) Kommentar
"… Denn in den letzten Jahren haben wir uns (ich schließe mich da nicht aus) viel zu sehr von den Bequemlichkeiten, die uns die Datenkraken versprochen haben, einlullen lassen und unsere Autonomie über unsere Daten dabei verloren – genauer: gedankenlos aufgegeben. Daher muß ein erster und wichtiger Schritt sein, diese Autonomie zurückzugewinnen. …"
Grosse Klasse, lieber Jörg, das sehe ich ganz genau so.
Ein frohes Neues Jahr und weiterhin gute Ideen. Dezentralisierung ist auch ein wichtiger Teil meiner Vorsätze für 2014.
»Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie darüber nachzudenken, warum es utopisch ist«
yep.
Mit herzlichen Grüßen aus FL
– Bertram S. (Kommentieren) (#)
Ein Problem bei Markdown ist momentan noch die fehlende Standardisierung. Da das Original-Markdown von John Gruber und Aaron Swartz doch recht minimalistisch in seinen Möglichkeiten ist, exisitieren einfach zu viel verschiedene Flavours, die nicht unbedingt miteinander kompatibel sind. Als Quasi-Standard sehe ich momentan die Markdown-Implementierung von Pandoc.↩
Gibt es eingentlich eine freie Version der Software, die hinter GitHub werkelt? ↩
Denn die sogenannte Facebook-Revolution in der arabischen Welt war keine Facebook-Revolution, sondern eine Handy-Revolution. Wir werden uns darauf einrichten müssen, daß wir es im internationalen Umfeld mit Netzteilnehmern zu tun haben werden, die unter Umständen nicht einmal über sauberes Wasser aus einer Leitung verfügen, aber ein Smartphone besitzen und damit das Web nutzen.↩
Über …
Der Schockwellenreiter ist seit dem 24. April 2000 das Weblog digitale Kritzelheft von Jörg Kantel (Neuköllner, EDV-Leiter, Autor, Netzaktivist und Hundesportler — Reihenfolge rein zufällig). Hier steht, was mir gefällt. Wem es nicht gefällt, der braucht ja nicht mitzulesen. Wer aber mitliest, ist herzlich willkommen und eingeladen, mitzudiskutieren!
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